Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden zugunsten des Steuerpflichtigen

Die Frage eines Steuerberaters: können bestandskräftige Steuerbescheide nachträglich aufgrund neuer Tatsachen zugunsten des Steuerpflichtigen geändert werden? Entstandener Aufwand ist ohne Verschulden nachträglich bekannt geworden. Welche Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden besteht hier? Gibt es da überhaupt eine Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden? Oder hat der Steuerpflichtige einfach Pech gehabt?

In Betracht kommt als Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden:

Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden nach § 173 I Nr. 2 AO

Im Einzelnen:

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind bestandskräftige Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen (oder Beweismittel) nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen. Den Steuerpflichtigen darf allerdings kein grobes Verschulden daran treffen, dass die Tatsachen (oder Beweismittel) erst nachträglich bekannt werden (vgl. Hessisches FG, Urteil v. 09.12.2008, 1 K 1169/06). Die Änderungsmöglichkeiten von bestandskräftigen Bescheiden zugunsten des Steuerpflichtigen sind also nicht schrankenlos möglich, sondern von folgenden 3 Voraussetzungen abhängig:

1. neue Tatsache

Eine Tatsache i.S. der Vorschrift ist alles, was Tatbestandsmerkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann. Das sind zum Beispiel Sachverhaltsdetails, etwa Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art.  Dies gilt auch für subjektive Vorstellungen, Vorhaben oder Absichten oder Willensentschließungen, die sich anhand äußerer Umstände abzeichnen oder nachvollziehen bzw. belegen lassen.

Nicht hierzu gehören Schlussfolgerungen, insbesondere nicht juristische Subsumtionen (vg. BFH, Urteil vom 02.08.1994 VIII R 65/93, BStBl II 1995, 264; BFH, Urteil vom 14.05.2003 X R 60/01, BFH -BFH/NV- 2003, 1144). Die erste Voraussetzung für Änderungsmöglichkeiten von Bescheiden zugunsten der Steuerpflichtigen sind also neue Tatsachen (oder Beweismittel).

Tatsachen können auch neue Schätzungsgrundlagen sein, also neue Anknüpfungspunkte für neue Schätzungen

Tatsachen in diesem Sinne sind auch neue Schätzungsgrundlagen. Beruht der ursprüngliche Bescheid auf einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, kann der Bescheid auch dann geändert werden, wenn neue Tatsachen nachträglich bekannt werden die Anknüpfungspunkt für eine abweichende Schätzung sein können (vergleiche BFH, Urteil vom 27.10.1992 – VIII R 41/89, BStBl 1993 II, 569).

Neue Beweismittel

Beweismittel sind Urkunden, Auskünfte, eidesstattliche Versicherungen, behördliche Bescheinigungen, Zeugenaussagen. Auch sie müssen nachträglich bekannt werden und der Finanzbehörde die Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der in dem zu ändernden Bescheid eingesetzten Besteuerungsmerkmale vermitteln. Soweit neu bekannt gewordenen Beweismittel die bisherige Festsetzung bloß infrage stellen oder als zweifelhaft erscheinen lassen, sollen dies keine neuen Beweismittel im Sinn des §§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sein.

Einbringung einer neuen Zeugenaussage als neues Beweismittel

Wie kann man eine neue Zeugenaussage der Behörde zur Kenntnis bringen, wenn diese keine Beweiserhebungen vornimmt? Lassen Sie sich von dem neu entdeckten Zeugen den Sachverhalt aus seiner Sicht beschreiben oder von diesem eidesstaatlich versichern. Dann haben Sie eine schriftliche Zeugenaussage oder eine eidesstattliche Versicherung des Zeugen und die reichen Sie bei der Behörde ein. Dann ist dies eine verschriftlichte neue Zeugenaussage als neues Beweismittel zur Akte gereicht. Das verbinden Sie mit Ihrem Änderungsantrag.

2. nachträgliches Bekanntwerden

Die Tatsache muss im Streitjahr auch erst nachträglich bekannt geworden sein. Das nachträgliche Bekanntwerden ist also die 2. Voraussetzung für die Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden.

Im Rahmen der Vorschrift des § 173 Abs. 1 AO kommt es für die Frage des nachträglichen Bekanntwerdens nicht auf die Kenntnis des Steuerpflichtigen an. Maßgeblich ist allein das Bekanntwerden auf der Ebene des Finanzamts (Urteil des BFH vom 29.06.1984 VI R 34/82, BStBl II 1984, 694). Neu ist eine Tatsache dann, wenn sie dem zuständigen Bediensteten des Finanzamts nicht bekannt war.

Wann darf sie nicht bekannt gewesen sein? Im Zeitpunkt des Abschlusses der Willensbildung in Bezug auf den zu ändernden Steuerbescheid darf diese Tatsache nicht bekannt gewesen sein (z.B. Urteil des BFH vom 20.06.1985 IV R 114/82, BStBl II 1985, 492).

Auf wessen Wissen kommt es aber im Finanzamt an?

Grundsätzlich kommt es auf das Wissen des zuständigen Finanzbeamten an. Problematisch wird es, wenn es mehrere gleichermaßen zuständige Finanzbeamte gibt oder die Bescheide automatisch erlassen werden. Hier sind die Tatsachen neu, wenn sie erstmals von der Finanzbehörde nach Erlass das angefochtenen Bescheides zur Kenntnis genommen werden, etwa aufgrund einer Belegprüfung oder einer Anfrage oder eines Änderungsantrages der Steuerpflichtigen.

Für die Änderungsmöglichkeiten bei Bescheiden sind bezüglich des Wissens und damit bezüglich der nachträglichen Kenntnis in der Rechtsprechung folgende Grundsätze herausgearbeitet worden:

Akteninhalte

Der zuständigen Dienststelle gilt grundsätzlich dasjenige als bekannt, was sich aus dem Inhalt der von ihr geführten Akten ergibt. Auf die individuelle Kenntnis des Bearbeiters kommt es nicht an (z.B. BFH-Urteile in BStBl II 1985, 492, und in BStBl II 1998, 458, m.w.N.; Hessisches FG, Urteil v. 09.12.2008, 1 K 1169/06). Damit spielt es für die Änderungsmöglichkeiten von Bescheiden keine Rolle, ob der konkrete zuständige Sachbearbeiter den Sachverhalt kannte oder nicht. Das wäre auch schwierig, weil manchmal mehrere Sachbearbeiter gleichermaßen zuständig sind. Auf wen sollte dann für die Frage der nachträglichen Kenntnis bei den Änderungsmöglichkeiten von Bescheiden abgestellt werden?

zwar kein Akteninhalt, aber das FA hätte bei ausreichender Ermittlung es wissen können oder müssen

Eine Tatsache gilt dann nicht als neu, wenn sie zwar nicht in der Akte enthalten ist, das Finanzamt sie aber hätte erkennen oder ermitteln müssen.  Dies folgt aus den auch im Steuerrecht geltenden Grundsätzen von Treu und Glauben. Damit gilt (=Fiktion!) eine Tatsache nicht als neu, die das Finanzamt hätte erkennen können oder müssen. Das Finanzamt kann sich also nicht darauf berufen, die Tatsache ergäbe sich nicht ausdrücklich aus den Akten. Das ist der Fall, wenn das Finanzamt bei ausreichender Erfüllung der amtlichen Ermittlungspflicht davon hätte Kenntnis erlangen können (z.B. Urteil des BFH vom 13.11.1985 , BStBl II 1986, 241).

bei Änderungen zug. des StPfl genügt hätte wissen können oder müssen nicht

Diese Grundsätze sind aber nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zum Schutz des Steuerpflichtigen entwickelt worden, um ihn vor Änderungen zu seinen Ungunsten zu bewahren. Bei Nr. 1 geht es um Sachverhalte, die zu einer höheren Steuer führen. Bei § 173 I Nr. 2 AO geht es aber um Sachverhalte, die zu einer niedrigeren Steuer führen. Dieser Grundsatz kann deshalb nach nahezu einhelliger Auffassung nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erstreckt werden, da dies darauf hinauslaufen würde, dass sich dann das Finanzamt zum Nachteil des Steuerpflichtigen auf sein eigenes pflichtwidriges Verhalten berufen könnte.

Im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO kann deshalb eine Tatsache nicht als bekannt gelten, wenn sie der zuständige Bearbeiter lediglich hätte kennen können oder kennen müssen (Urteile des BFH vom 13.04.1967 V 57/65, BStBl III 1967, 519, und in BStBl II 1997, 422; AEAO zu § 173, Nr. 2.3.6 und 4.2.

kommt es auf das positive Wissen des Sachbearbeiters an oder darauf ob er es hätte wissen können oder müssen, weil die Information etwa in der Akte enthalten ist?

Offen ist hingegen die Frage, ob auch der Grundsatz hinsichtlich der Zurechnung der Kenntnis des Akteninhalts aller Akten, gleichgültig ob nun bekannt oder nicht,  nur im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gilt,  oder ob dies auch für Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen gilt, also auch bei § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO.

Anders formuliert: Es stellt sich rechtlich die Frage, ob bei Änderungen zugunsten Steuerpflichtigen, also bei § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur solche Tatsachen als bekannt anzusehen sind, von denen der zuständige Sachbearbeiter beim Erlass des Steuerverwaltungsakts tatsächlich positiv Kenntnis genommen hat, oder aber auch solche, von denen er aufgrund der ihm bei der Bearbeitung vorliegenden Steuerakten Kenntnis nehmen konnte – also etwa aus anderen Akten Kenntnis hätte erlangen können, ohne dass er dies getan hat.

BFH: bei § 173 I Nr. 2 AO nur maßgebend, was der Sachbearbeiter positiv wusste

Die Frage ist in dem BFH-Urteil vom 13.06.1989 VIII R 174/85, BStBl II 1989, 789, unter Hinweis darauf, dass das Kennenmüssen oder kennen können in der Rechtsprechung des BFH zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO entwickelt worden ist, dahingehend problematisiert worden, ob nicht im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur solche Tatsachen als bekannt anzusehen sind, von denen der zuständige Sachbearbeiter beim Erlass eines Verwaltungsakts positive Kenntnis genommen hat oder „aufgrund der Steuererklärung“ Kenntnis nehmen konnte.

Die Beantwortung dieser Frage ist aber letztlich offen geblieben. In dem Urteil in BStBl II 1997, 422, hat der BFH sodann allerdings erkannt, dass im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO eine Tatsache nicht als bekannt gelten könne, die der zuständige Beamte lediglich hätte kennen können oder kennen müssen.

Wissen und wissenmüssen unterschiedlich bei § 173 I Nr. 1 und Nr. 2 AO

Damit ist also bei den Änderungsmöglichkeiten von bestandskräftigen Bescheiden danach zu differenzieren, wenn es um die Frage geht was der zuständige Finanzbeamte wusste oder nicht wusste bzw. was für ihn neu ist, ob es sich um eine Änderung zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen handelt. Bei den Änderungen zugunsten der Steuerpflichtigen kommt es nur darauf an, was der Finanzbeamte tatsächlich positiv kannte oder aus der ihm zur Verfügung stehenden Akte wissen konnte. Es kommt nicht darauf an, was er insgesamt hätte ermitteln können oder auch beim bei Hinzuziehung anderer Akten hätte erkennen können. Damit sind Tatsachen oder Beweismittel er neu und damit ist der Änderungsarbeiten nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO eher gegeben.

Anders ist dies bei Änderungen zum Nachteil der Steuerpflichtigen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Hier ist nur das „neu“, was der Veranlagung Sachbearbeiter tatsächlich nicht wusste und auch bei Aktenlektüre seiner konkreten Akte aber auch anderer beizuziehende Akten oder bei sachgerechten Ermittlungen nicht erkennen konnte.  Die Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal  „neu“ sind hier also strenger und höher als bei § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Die Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden sind also von „neuen Tatsachen“ oder „neuen Beweismitteln“ abhängig, und was neu ist, wird unterschiedlich streng beurteilt, je nach dem, ob zugunsten oder zulasten des Steierpflichtigen geändert werden soll.

FA kann sich nicht auf seine eignen Versäumnisse zum Nachteil des StPfl berufen

Bei § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, um den es hier letztendlich bei einer Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden zugunsten der Steuerpflichtigen geht, darf das Finanzamt sich nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen auf sein eigenes Versäumnis oder Verschulden bei der Ermittlung des Sachverhaltes oder bei der Beiziehung von Akten berufen (Hessisches FG, Urteil v. 09.12.2008, 1 K 1169/06).

3. Es darf schließlich beim Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der neuen Tatsache treffen

Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Das Vorliegen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit ist im Wesentlichen eine Tatfrage. Vorsatz scheidet meist von vornherein aus, da der Steuerpflichtige doch nicht vorsätzlich ihn begünstigende Sachverhalte aus der Erklärung weg lässt. Das Fehlen des groben Verschuldens beim Steuerpflichtigen ist schließlich die 3. Voraussetzung für die Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden bei § 173 I Nr. 2 AO.

Grobe Fahrlässigkeit in Abhängigkeit der persönlichen Fähigkeiten und Vorbildung

Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (z.B. Urteile des BFH vom 09.08.1991 III R 24/87. BStBl II 1992, 65, und in BStBl II 1993, 80; AEAO zu § 173, Nr. 5.1). Ein Steuerpflichtiger handelt grob fahrlässig, wenn er unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ebenso liegt grobe Fahrlässigkeit vor, wenn der Steuerpflichtige die einfachsten ganz naheliegenden Überlegungen nicht anstellt.

Nichtbeantwortungen der Fragen im Steuererklärungsformular sind grob fahrlässig

Grobe Fahrlässigkeit liegt ebenfalls vor, wenn der Steuerpflichtige eine in einem Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht, unvollständig oder falsch beantwortet. Ebenso liegt grobe Fahrlässigkeit vor, wenn er sich aufdrängenden Zweifelsfragen nicht nachgeht (Loose in Tipke/Kruse, AO/Finanzgerichtsordnung -FGO-, § 173 AO Tz. 76, mit zahlreichen Nachweisen).

Mangel an steuerrechtlichen Kenntnissen allein begründet nicht den Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit

Der Mangel an steuerrechtlichen Kenntnissen vermag indes bei einem Steuerpflichtigen ohne einschlägige steuerliche Ausbildung den Vorwurf grober Fahrlässigkeit allein nicht zu begründen (BFH-Urteile in BStBl II 1993, 80, und vom 21.09.1993 IX R 63/90, BFH/NV 1994, 99). Dies gilt auch bei einem „Berufsjuristen“ ohne Tätigkeit oder Vorbildung auf dem Gebiet des Steuerrechts (Urteil des BFH vom 10.08.1988 IX R 219/84, BStBl II 1989, 131). Anderes gilt nur, wenn der Steuerpflichtige einer Zweifelsfrage nicht nachgeht, die sich ihm hätte aufdrängen müssen (Beschluss des BFH vom 31.01.2005 VIII B 18/02, BFH/NV 2005, 1212).

Problem: Sachbezogene Frage im amtlichen Vordruck

Häufig problematisch ist, wenn im Vordruck eine diesbezügliche Frage nicht beantwortet wurde. Fraglich ist dann, ob dem Steuerpflichtigen nicht vorgeworfen werden kann oder muss, dass er eine in einem Steuerformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beachtet habe.

Ausfüllanleitung gegebenenfalls relevant

Wenn aber die Anlage keine explizite Frage zu dem fraglichen Sachverhalt enthält und auch die Ausfüllanleitung hierzu nicht existiert, kann der Steuerpflichtige aus den Formularen nicht erkennen, ob und wie und wo er den Sachverhalt in der Erklärung angeben kann (Hessisches FG, Urteil v. 09.12.2008, 1 K 1169/06). Insoweit empfiehlt es sich, die amtliche ausführt Anleitung aufzuheben, um etwa später dann nachweisen zu können, dass entweder keine Erläuterung zu einem Punkt vorhanden waren oder die dortigen Begründungen der Klärung jedenfalls die vom Steuerpflichtigen vorgenommene Auslegung unterstützen oder jedenfalls dieser nicht widersprechen.

Für unseren obigen Fall bedeutet dies: Dann bleibt nur der Ansatzpunkt, dass der Vorwurf grober Fahrlässigkeit daran anknüpfen müsste, dass der Steuerpflichtige nicht erkannt hat, dass dieser Sachverhalt als Betriebsausgabe bzw. Werbungskosten abzugsfähig ist oder sein könnte. Hinzu kommen müsste die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des StPfl., dass er auch ohne passende Zeile den Sachverhalt dennoch in dem Formular oder in einer Anlage dazu erklären könne oder müsse.

Keine ordnungsgemäße Belegsammlung dürfte grobfahrlässig sein

Aufgrund der Verpflichtung, alle Belege zeitnah und sachgerecht zusammen, wird die Finanzverwaltung natürlich hier hinterfragen, warum der Steuerpflichtige nur leicht fahrlässig nicht erkannt haben will, dass er diese Betriebsausgabe bzw. Werbungskosten geltend machen kann. Einen Sachverhalt, dass jemand Kosten im Zusammenhang mit seinem Beruf hat und nicht erkennt, dass dies steuerlich relevant sein könnte, ist schwer vorstellbar. Zu vermuten ist, dass die Finanzverwaltung hier vielmehr eine grobe Fahrlässigkeit vermuten wird, etwa dahingehend, dass Belege nicht ordnungsgemäß aufbewahrt wurden oder nicht sachgerecht gesammelt wurden, wodurch der Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Abgabe der Steuererklärung eben diese Kosten nicht geltend gemacht hat. Die Frage der groben Fahrlässigkeit wird also in diesen Fällen sicherlich sehr kritisch von der Finanzverwaltung beäugt und geprüft werden.

Nur wenn keine grobe Fahrlässigkeit vorliegt, können die Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten nachträglich geltend gemacht werden

Wenn aber den Gesamtumständen nach sich dieser Vorwurf der groben Fahrlässigkeit auch nicht rechtfertigen lässt, bleibt es dabei, dass der Steuerpflichtige ohne Vorwurf den Sachverhalt nicht erklären konnte.

Keine Verpflichtung zur Einschaltung eines Steuerberaters zur Abgabe der Steuererklärung oder zur Gewinnermittlung

Auch kann dem Steuerpflichtigen nicht angelastet werden, dass er einen Steuerberater hätte konsultieren müssen oder den Sachverhalt in einem Anschreiben neben der elektronisch zu übermittelnden Erklärung hätte geltend machen können müssen oder sollen (Hessisches FG, Urteil v. 09.12.2008, 1 K 1169/06).

Vorbildung und steuerliches Sonderwissen bzw. steuerliche Ausbildung relevant

Die Ausbildung und der berufliche Werdegang des Steuerpflichtigen könnte bei Offenbarung eines steuerlichen Sonderwissens zu anderen Entscheidungen bzw. Bewertungen führen. Weist die Ausbildung und der Beruf des Steuerpflichtigen keinen Bezug zum Steuerrecht auf, ist das Nichtgeltendmachen der Betriebsausgabe auch nicht grob fahrlässig. Der 19… geborene Steuerpflichtige hat nach dem Realschulabschluss die Fachoberschule mit der Fachrichtung Bauwesen absolviert. Alsdann hat er ein Studium an der Fachhochschule im Studiengang Bauwesen begonnen, hat dieses jedoch … abgebrochen. Anschließend war er nichtselbständig im Bereich Finanzierungen und Versicherungen tätig.

Das erste Jahr seiner selbständigen gewerblichen Tätigkeit hatte er damals durch einen Steuerberater erstellen lassen. Die Gewinnermittlungen hat er danach selbst erstellt und sich dabei jeweils an der ersten fachkundig erstellten ersten Gewinnermittlung als Muster orientiert.

Sonderwissen des Steuerpflichtigen: steuerliche Aus- oder Vorbildung?

Unter den dargestellten Umständen – namentlich mangelnde Steuerrechtsausbildung oder -praxis, Orientierung an der ersten fachkundig erstellten Gewinnermittlung eines Steuerberaters – beruht die Vorstellung des Klägers, dass dieser Aufwand hier nicht als Betriebsausgabe abzugsfähig ist, auf mangelnden Steuerrechtskenntnissen. Solche mangelnde Steuerrechtskenntnisse vermögen aber den Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht zu begründen. Das Wissen eines Steuerberaters oder Finanzbeamten ist eben nicht der Maßstab. Gerade angesichts der allgemein anerkannten Kompliziertheit des deutschen Steuerrechts vermag also die Nichtkenntnis einer steuerliche Norm allein den Vorwurf der Leichtfertigkeit der Nichtkenntnis der Gesetzeslage bei einem Laien nicht zu rechtfertigen.

Sichtweise eines steuerlichen Laien

Die Vorstellung des Steuerpflichtigen war jedenfalls aus der Sicht eines steuerlichen Laien auch nicht so abwegig, dass sich ihm bei Beachtung der ihm möglichen und zumutbaren Sorgfalt Zweifel hätten aufdrängen und er diesen Zweifeln hätte nachgehen müssen.

Denn der Umstand, dass eine Steuer sich über den Abzug als Betriebsausgabe bei einer anderen Steuer steuermindernd auswirkt, muss sich einem steuerlichen Laien nicht zwangsläufig aufdrängen.

Wenn ein Steuerpflichtiger mit der Ausbildung und den Fähigkeiten des Steuerpflichtigen unter diesen Umständen, wie er geltend macht, nicht auf die Idee gekommen ist, dass daneben zusätzlich noch ein Abzug des Aufwands als Betriebsausgabe in Betracht kommen könnte, kann darin keine Verletzung der ihm zuzumutenden Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise gesehen werden.

Auslegung von Fachbegriffen durch steuerliche Laien

Der Streitfall ist hinsichtlich der Bewertung der Schwere des Verschuldens durchaus auch den vom BFH zugunsten des Steuerpflichtigen entschiedenen Fällen vergleichbar, in denen der Steuerpflichtige in unter dem im Erklärungsvordruck verwendeten Begriff „Gewinn“ nur einen positiven Gewinn verstanden hat (Urteil vom 23.01.2001 XI R 42/00, BStBl II 2001, 379) oder mangels Einnahmen gemeint hatte, keine „Einkünfte“ erzielt zu haben (Urteil in BStBl II 1989, 131).

Kein Argument: Üblicherweise wird ein Steuerberater für die Gewinnermittlung beauftragt

Soweit das Finanzamt darauf hinweist, dass Unternehmer mit Umsätzen und Gewinnen in der vom Kläger erzielten Höhe überwiegend steuerliche Beratung in Anspruch nähmen, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Denn ein Steuerpflichtiger muss grundsätzlich nicht einen Steuerberater zur Anfertigung der Steuererklärung bemühen und erst Recht nicht ab einer bestimmten Einkommens- oder Umsatzhöhe (Hessisches FG, Urteil v. 09.12.2008, 1 K 1169/06).

Steuerpflichtige ist nicht verpflichtet, einen Steuerberater einzuschalten – dafür Steuererklärung und die Gewinnermittlung selbstfertigen

Denn ein Steuerpflichtiger ist grundsätzlich nicht gehalten, einen Mangel an Kenntnissen abgabenrechtlicher Vorschriften dadurch zu kompensieren, dass er sich um fachkundigen Rat bemüht (von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 173 AO Rz. 282). Dies würde der ständigen Rechtsprechung des BFH, wonach allein mangelnde steuerrechtliche Kenntnisse des Steuerpflichtigen ohne einschlägige Ausbildung kein grobes Verschulden i.S.v. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO begründen, geradezu zuwider laufen (Urteil des BFH in BStBl II 2001, 379).

Im Streitfall war auch angesichts der einfachen Struktur der von dem Steuerpflichtigen betriebenen Versicherungsvermittlung und des geringen Umfangs der mit wenigen Positionen auf einer Seite erstellten Einnahme-Überschussrechnung keine Inanspruchnahme steuerlicher Beratung geboten.

Hiernach sind Anhaltspunkte für ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen nicht erkennbar.

Feststellungslast für grobes Verschulden liegt beim Finanzamt

Anhaltspunkte für ein grobes Verschulden hat das Finanzamt vorzubringen. Die Feststellungslast für das grobe Verschulden liegt beim Finanzamt. Solche Anhaltspunkte wären also vom Finanzamt darzulegen und ggf. zu beweisen gewesen.

Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Fehler des Steuerpflichtigen im Regelfall auf einem Versehen, also auf leichter Fahrlässigkeit, beruhen.

Verbleibende Zweifel gehen zu Lasten des Finanzamts, das insoweit die objektive Beweislast (Feststellungslast) trägt (BFH-Urteil in BStBl II 1993, 80, Loose, a.a.O., § 173 AO Tz. 85; a.A. AEAO zu § 173, Nr. 5.1; Hessisches FG, Urteil v. 09.12.2008, 1 K 1169/06).

Fehlt der Nachweis eines groben verschuldens des Steuerpflichtigen, kann dahinstehen, ob die Verletzung der Ermittlungspflichten und der Fürsorgepflichten durch das Finanzamt für die verspätete Geltendmachung der Aufwendungen  als Betriebsausgaben ursächlich gewesen ist und auch deshalb ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen zu verneinen sein könnte (s. AEAO zu § 173, Nr. 5.1.4). Ob sich Hinweis- und Rückfragepflichten für das Finanzamt ergeben, könnte ansonsten auch zu diskuterien sein. Hier könnte also für das Finanzamt sich schon die Betriebsausgabe aufdrängen müssen (es fehlen etwa die Kosten für eine notwendige Berufshaftpflicht) und eine Nachfrage beim Steuerpflichtigen sich aufdrängen müssen.

weitere Änderungsmöglichkeiten von bestandskräftigen Bescheiden

Es gibt grundsätzlich noch weitere Änderungsmöglichkeiten von Bescheiden. Hier ist das Problem die Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden.  Häufig stehen die Bescheide gerade unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO. Dann kann ohnehin ein Änderungsantrag gestellt werden. Nur wenn eine endgültige Veranlagung vorliegt, kommt es auf die Änderungsmöglichkeit von bestandskräftigen Bescheiden, also auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO an.

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