Überraschungsentscheidung – Schätzung
Überraschungsentscheidung – Schätzung
Überraschungsentscheidung – Schätzung: In oder genauer gesagt nach der mündlichen Verhandlung beim FG entstehen manchmal ziemliche Überraschungen und daraus resultiert eine rechtswidrige Überraschungsentscheidung, § 76 II FGO, gerade bei einer Schätzung.
Das Problem: Das erfährt man erst hinterher, wenn die mündliche Verhandlung beendet ist, entweder mit der Urteilsverkündung und einer eventuellen kurz Begründung oder mit der Urteilszustellung. Dann offenbaren sich erst die Überraschungsentscheidungen. Dann stellt sich die Frage nach einer Revision bzw. wenn diese wie regelmäßig nicht zugelassen ist, nach einer Nichtzulassungsbeschwerde.
Gerade bei einer Schätzung ist es schwierig, da der BFH die Schätzung als solcher als Tatsachen Entscheidung ansieht und fehlerhafte Schätzungen nicht in der Revision aufhebt, schon gar nicht mit der Begründung, dass die Schätzung fehlerhaft ist.
Häufig fehlen Hinweise – dies führt zu Überraschungsentscheidungen
Hinweise werden bei den Finanzgerichten nicht häufig erteilt. § 139 ZPO i.V.m. § 155 FGO führt hier ein bemerkenswertes Schattendasein. Hier meint der BFH, dass ein Finanzgericht eine eigene Schätzung nicht detailliert im Vorfeld offenlegen muss. Dies begegnet schwerwiegenden Bedenken.
Hier einige Teilaspekte: bei Überraschungsentscheidung – Schätzung
Überraschungsentscheidung
Eine Überraschungsentscheidung und eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste.
Angeblich keine umfassende Erörterung im Vorfeld erforderlich
„Einer umfassenden Erörterung der für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte bedarf es im Vorfeld der Entscheidung nicht (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 26.06.2021 – VIII B 46/20, BFH/NV 2021, 1511, Rz 10, m.w.N.).“
Rechtsanspruch auf rechtliches Gehör, Art 103 I GG
Diese Rechtsansicht des BFH ist falsch, da natürlich der Kläger einen Rechtsanspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG hat und er sich nur mit den Gedankengängen des Finanzgerichts auseinandersetzen kann, wenn das Finanzgericht dies vorher offenlegt. Die umfassende Erörterung gerade bei einer Schätzung ist unter mehreren Gesichtspunkten sinnvoll und geboten: Das Finanzgericht entscheidet in erster und letzter Tatsacheninstanz, so dass eventuelle Denk- oder Rechenfehler des Gerichts nur dann korrigiert werden können, wenn das Gericht seine eigene Kalkulation und seine eigene Berechnung offenlegt und der Kläger aber auch der Beklagte Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen. Dies gehört zwingend zu einem fairen Verfahren, Art. 20 Abs. 3 GG, Rechtsstaatsprinzip, daraus abgeleitet das fair trial- Prinzip.
Gerade bei Schätzungen ist die Erörterung einer abweichenden Sichtweise des FG erheblich
Die Erörterung einer abweichenden Schätzung durch das Finanzgericht ist nicht nur deswegen erheblichen, weil der BFH regelmäßig nicht Schätzung-Entscheidungen korrigiert, selbst bei groben Fehlern nicht. Denn dies sind aus seiner Sicht Tatsachenentscheidungen. Alles andere führt in der Regel zu Überraschungsentscheidung – Schätzung
Erhöhte Richtigkeit einer Schätzung durch vorherige Diskussion und Offenlegung im Sinne einer materiellen Richtigkeit und Gerechtigkeit
Und es ist natürlich auch im Interesse des Finanzgerichts, eine richtige Entscheidung zu treffen, weswegen die – rechtzeitige – Offenlegung der eigenen Schätzung, der Schätzungsmethode und der Berechnung unerlässlich ist, damit Kläger und Beklagte sich hierzu äußern können. Nur so können Kläger und Beklagter eventuelle Aspekte, die das Finanzgericht nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt hat, hier dann aufzeigen. Dies verhindert Überraschungsentscheidung – Schätzung
Eigene Überprüfungsmöglichkeit des Finanzgerichts nur dann, wenn vorher die eigene Schätzung des Finanzgerichts offengelegt wird
Nur so kann das Finanzgericht auf die entsprechenden Hinweise der Beteiligten seine eigene Schätzung überprüfen und diese gegebenenfalls korrigieren oder sich in den Urteilsgründen damit auseinandersetzen, warum die Aspekte von Kläger oder Beklagten nicht oder nicht so erheblich sind oder in den Schätzungen bereits berücksichtigt sind. Eine Überraschungsentscheidung – Schätzung ist auch nicht im Interesse des FG.
Offenlegungsverpflichtung des Finanzgerichts hinsichtlich seiner eigenen Schätzung aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren und Gewährung rechtlichen Gehörs
Der BFH lässt sich nicht verstehen, dass er hier den Finanzgericht nicht auferlegt, etwa im Vorfeld einer mündlichen Verhandlung zur Vorbereitung auf diese dann bei möglicherweise abweichenden Schätzungen die Schätzungsgrundlagen, die Systematik und die Berechnungen offenzulegen, damit dann in der mündlichen Verhandlung spätestens darüber gesprochen werden kann bzw. die Beteiligten schon vorher schriftsätzlich dazu vortragen können. Dies gehört zu einer fairen Verhandlung und zum Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
Hintertürchen: Saldierungsmöglichkeiten? Ist das nicht gerade der Aufhänger für negative Überraschungsentscheidungen?
„Zudem ist Streitgegenstand im finanzgerichtlichen Verfahren nicht das einzelne Besteuerungsmerkmal, sondern die Rechtmäßigkeit der festgesetzten Steuer, weshalb der Kläger des jeweiligen Verfahrens sich stets auch auf die Möglichkeit einstellen muss, dass im Rahmen der Klageanträge Besteuerungsgrundlagen zu seinen Lasten saldierend zu berücksichtigen sein können, selbst wenn er hierzu nichts vorgetragen hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 26.06.2021 – VIII B 46/20, BFH/NV 2021, 1511, Rz 10; vom 19.04.2005 – III B 19/04, juris, unter 1.).“
Gewaltenteilungsgrundsatz: Gericht darf nicht für den Beklagten weitere Streitfelder eröffnen und so Verrechnungspositionen schaffen
Fraglich ist die Rechtsansicht des BFH, ob auch dann, wenn Kläger und Beklagter zu einem Teilaspekt nichts vorgetragen haben, dass Gerichte diese bislang unstreitigen Aspekte selbst aufgreifen dürfen. Dies führt doch erst recht zu Überraschungsentscheidungen. Zudem gibt es einen Gewaltenteilungsgrundsatz und das Gericht kann nicht einfach auf einmal die Position des Beklagten übernehmen und für den andere Aspekte saldierend berücksichtigen und quasi damit den Vortrag des Beklagten erweitert. Die Position des BFH führt zudem auch dazu, dass hier ohne vorherigen Hinweis auf einmal Aspekte saldiert werden, die vorher gar nicht erörtert wurden und nicht Streitgegenstand waren.
Rechtliches Gehör
Gerade in solchen Situation spricht vieles dafür, dass hier einfach rechtliches Gehör abgeschnitten wird, weil Sachverhaltselemente, die möglicherweise auch in Teilbestandskraft erwachsen sind, nunmehr auf einmal wieder in die Diskussion zurückgebracht werden. Insoweit geht doch das Finanzgericht in solchen Fällen über den Streitstoff eigentlich hinaus, indem es eine Generalüberprüfung durchführt, die dem durch die Einspruchsentscheidung und den Klageantrag festgeschweißten Entscheidungsrahmen überschreitet.
Positive wie negative Beweiskraft des Protokolls
„Ein mündlich erteilter Hinweis ist als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen (BFH-Beschluss vom 19.09.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 10). Das Original des Sitzungsprotokolls erbringt insofern auch den negativen Beweis (§ 94 FGO i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung), dass der Hinweis unterblieben ist (BFH-Beschlüsse vom 19.09.2014 – IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 12; vom 20.09.2022 – VIII B 85/21, BFH/NV 2022, 1298, Rz 11 zu Ausschlussfristen).“
BFH folgt der üblichen Ansicht zum Protokoll
Diese Rechtsansicht des BFH folgt der üblichen Ansicht zum Protokoll: Alles was da drin ist es geschehen, alles was nicht da drin ist es nicht geschehen.
Daraus folgt natürlich eine sehr erhebliche Macht des Vorsitzenden, da derjenige, der das Protokoll führt, letztendlich damit bestimmt, was formal geschehen ist und was nicht formal geschehen ist.
Hinweise für Prozessbevollmächtigte
Als Prozessbevollmächtigte müssen sie also unbedingt darauf achten, dass die Passagen, die ihnen wichtig sind, auch unbedingt in das Protokoll hineinkommen. Lassen sie sich dabei nicht beunruhigen, wenn der Vorsitzende meint, das sei unerheblich oder darüber würde sowieso von Amts wegen entschieden oder das bräuchte man so nicht oder sie Stirnrunzeln anschaut und fragt, warum sie das brauchen oder für was das gut sein soll. Beantragen Sie einfach, dass Ihre Anträge und Ihre sonstigen Darstellungen, soweit Sie sie für wichtig halten, ins Protokoll kommen.
Beratungen bzw. Reaktionen des Vorsitzenden auf Protokollrüge unerheblich
Nicht der Vorsitzende hat darüber zu entscheiden, sondern letztendlich der BFH als Revisionsinstanz, ob Rügen korrekt und vollständig erhoben sind oder nicht. Wenn bei ihren Rügen der Vorsitzende auf einmal nicht mehr diktieren kann, helfen sie ihm oder bestehen sie darauf, dass genau das so formuliert wird, wie sie möchten. Auch wenn der Vorsitzende eine Hinweispflicht zumindest bei den Anträgen hat, Sie zu sachgerechten Anträgen zu unterstützen, auch wenn Sie prozesserfahren und berufsmäßiger Prozessbevollmächtigter sind, bei den Rügen braucht er aber derartige Hinweise nicht zu erteilen. Der Vorsitzende darf Ihnen auch die Stellung von bestimmten Rügen oder Anträgen nicht untersagen oder diese für unerheblich halten oder diese zurückweisen.
Bei Eklat: schriftliche Anträge stellen, verlesen, zu Protokoll reichen
Sollte es dennoch zum Eklat kommen, bitten sie um Unterbrechung und stellen sie ihre Rügen oder Anträge schriftlich und reichen sie diese dann zu Protokoll einen verlesen sie diese zuvor und bitten um Protokollierung. Dass sie diesen schriftlichen Antrag dann verlesen haben und dass dieser zu Protokoll genommen wird, sorgt jedenfalls dann dafür, das Rügen dann so erfasst sind, wie Sie sie formuliert haben möchten. Dann achten Sie aber darauf, dass im Protokoll steht, dass sie die Anträge verlesen und gestellt haben und dass diese zu Protokoll genommen werden.
Wichtigkeit des Protokolls
Die Protokollführung ist wichtig. Der Prozessbevollmächtigte sollte also stets darauf achten, dass auch seine Rügen und Anträgen korrekt im Protokoll wiedergegeben sind. Soweit der Einzelrichter oder Senatsvorsitzende diktiert, ist dies leicht überprüfbar. Dann könnten nur noch Fehler entstehen, wenn das Protokoll nach Diktat nicht richtig abgeschrieben wird. Leicht zu prüfen ist es auch, wenn der Vorsitzende einer anwesenden Protokollkraft in den PC diktiert.
Bislang fehlt: Mitlesen des Protokolls durch Beteiligte während der Sitzung
Schade ist es allerdings, dass in seinem solchen Fall zwar der Vorsitzende auf dem PC vor sich und die Protokollkraft auf dem Bildschirm vor sich das Protokoll sieht, andere Beteiligte aber nicht. Hier wäre es begrüßenswert, wenn dann das Protokoll via eines Projektes an einer Wand geworfen werden könnte oder auch die Beteiligten einen Bildschirm an den Sitzplätzen hätten. Bei Videokonferenzen nach § 128 a ZPO in Verbindung mit § 155 FGO könnte das Protokoll über einen geteilten Bildschirm an die auswärtigen Beteiligten übermittelt werden.
Anspruch auf mitlesen des Protokolls aus dem fair trial Prinzip
Gerade wegen der überragenden Wichtigkeit des Protokolls folgt meines Erachtens aus dem Fairnessgebot (fair trial Prinzip, Art. 20 Abs. 3 GG), dass auch die anderen Prozessbeteiligten hier das aktuelle Protokoll (über Bildschirm oder an die Wand projiziert) mitlesen können.
Hinweise auf einen abweichenden Geschehensablauf und Unrichtigkeit des Protokolls durch Anhaltspunkte im Urteil?
Andererseits können sich ausnahmsweise auch Hinweise auf Prozessereignisse aus dem Urteil ergeben:
„Andererseits ist das Protokoll offensichtlich unvollständig. Aus dem angefochtenen Urteil (S. 15, vorletzter Absatz) ergibt sich, dass das FG in der mündlichen Verhandlung vom 01.06.2022 „eine vorläufige Einschätzung getroffen“ hatte, welche „Streitpunkte erfolgreich sein könnten und welche nicht“. Unter diesen Voraussetzungen kann es zulässig sein, Umstände zu berücksichtigen, die nicht Inhalt des Protokolls geworden sind. (s. dazu Senatsbeschluss vom 29.08.2023 – X B 18-20/23, BFH/NV 2023, 1325).“ (Beschluss vom 19. Dezember 2023, X B 1/23, Rn 27).
Scheinbar unumstößliche Beweiskraft des Protokolls
Fraglich ist, ob solche Anhaltspunkte außerhalb des Protokolls dann die Richtigkeit und Vollständigkeit des Protokolls infrage stellen können. Können Sie also aus solchen Anhaltspunkten außerhalb des Prokolls dann erfolgreich eine Rüge ableiten und begründen? Können Sie mit einer Darstellung im Urteil die Unvollständigkeit oder Fehlerhaftigkeit des Protokolls beweisen? Wohl kaum. Denn: Maßgebend ist das Protokoll. Es enthält die Beweiskraft dafür, dass dies so gelaufen ist wie es dort steht auch mit den negativen Abgrenzung, dass alles das, was nicht im Protokoll steht, auch nicht geschehen ist. Insoweit gilt: Das Protokoll und dessen Inhalt ist extrem wichtig für ein eventuelles Revision-bzw. Nichtzulassung-Beschwerdeverfahren.
Revisionsrechtlich genügt die einfache Rüge, das Urteil sei falsch, nicht
Die schlichte Rüge einer fehlerhaften Rechtsanwendung ist grundsätzlich nicht geeignet, die Zulassung der Revision zu begründen. Das prozessuale Rechtsinstitut der Nichtzulassungsbeschwerde dient nicht dazu, die Richtigkeit finanzgerichtlicher Urteile umfassend zu gewährleisten (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsbeschlüsse vom 26.04.2023 – X B 102/22, BFH/NV 2023, 824, Rz 18 und vom 21.07.2017 – X B 167/16, BFH/NV 2017, 1447, Rz 19, m.w.N.). (BFH Beschluss vom 19. Dezember 2023, X B 1/23, Rn 9)
Zu Schätzungen speziell:
Nach § 162 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) hat die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Aber nur, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO i.V.m. § 162 AO gibt dem FG eine eigene Schätzungsbefugnis. Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO sind die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen bestehen. Ob solche tatsächlichen Anhaltspunkte vorliegen, betrifft eine Frage des Einzelfalls und keine abstrakte Rechtsfrage. Dies gilt insbesondere für Aufzeichnungsmängel und Indizien, aus denen das FG die Unvollständigkeit und Unrichtigkeit der aufgezeichneten Einnahmen ableitet. Einer abstrakten Aussage ist eine solche Fragestellung nicht zugänglich (BFH-Beschluss in BFH/NV 2017, 774, Rz 14, 20). (BFH, Beschluss vom 07. Juni 2022, VIII B 51/21, Rn 7)
Der Spezialist im streitigen Steuerrecht: Rechtsanwalt Dr. jur. Jörg Burkhard
Fragen zur mündlichen Verhandlung? Überraschungsentscheidung? Überraschungsentscheidung – Schätzung? Fragen zu Schätzungen? Dann rufen Sie den Spezialisten im streitigen Steuerrecht an! Rechtsanwalt Dr. jur. Jörg Burkhard, Fachanwalt für Steuerrecht, Fachanwalt für Strafrecht. Der Spezialist bei Betriebsprüfung, digitaler Betriebsprüfung Steuerfahndung, Zollfahndung. Kasse, Kassennachschau, Schätzung, Tax Compliance, Selbstanzeigen